Fluchtkatastrophe

Kommentar zur gegenwärtigen Fluchtkatastrophe 

FluchtAm Sonntag, nach evangelischer Zählung der 13. nach dem Trinitatisfest, wird in vielen Kirchen das Evangelium vom barmherzigen Samariter gelesen und gepredigt. In der Selbständigen Evangelisch-Lutherischen Kirche (SELK) wird vielerorts ein Diakoniesonntag begangen und eine Diakoniekollekte für die Flüchtlingshilfe erbeten. "Flüchtlinge willkommen heißen - Flüchtlingsarbeit in der SELK" ist der vom Diakonischen Werk und der Kirchenleitung der SELK festgelegte Zweck dieser Sammlung.

Lesen Sie dazu einen Kommentar von SELK-Bischof Hans-Jörg Voigt D.D.

 
 
Die Flucht aus Syrien dauerte für Ahmad U. 71 Tage und kostete 3.000 Euro, die seine Eltern für ihn zusammenkratzten, nachdem eine Granate das Nachbarhaus zerstört hatte und sie um ihr Leben zu fürchten begannen. Sieben paar Schuhe hat Ahmad durchgelaufen. Die zwei schlimmsten Wegstrecken waren die Durchquerung Syriens und die Mittelmeerüberfahrt. Über die Geschichte dieser Flucht berichtet Raniah Salloum (SPIEGEL ONLINE vom 3.5.2015).

"'An einem Checkpoint des Regimes wurden wir windelweich geschlagen, bis einer aus unserer Gruppe verriet, wer von uns der Schlepper ist. Dem haben sie 50.000 syrische Pfund (etwa 250 Euro) abgeknöpft und uns dann weiterziehen lassen. An anderen Checkpoints wurde uns allen ein wenig Geld abgeknöpft', erzählt Ahmad U.

Auf der Fahrt von der Türkei nach Griechenland stand die kleine Gruppe Todesängste aus.

,Wir waren auf einer Art Schlauchboot - mit 36 Leuten! Kurz nachdem wir losgefahren waren, sagte der Schlepper, wir sollten immer weiter in diese Richtung fahren. Er sprang ins Wasser und schwamm davon.' Die Gruppe im Boot versuchte verzweifelt, den Weg zu finden, glaubte sich schon verloren. ,Der Wind und die Wellen haben uns beinahe zum Kentern gebracht', erinnert sich Ahmad. Nach fünf Stunden erreichten sie eine griechische Insel. Von dort brachten die Behörden sie ans Festland."

Zur Vorbereitung meiner Predigt, die ich am Sonntag in Hannover und dann in Hildesheim zu halten habe, las ich dann das Sonntagsevangelium aus Lukas 10, 25-37: "Es war ein Mensch, der ging von Jerusalem hinab nach Jericho und fiel unter die Räuber; die zogen ihn aus und schlugen ihn und machten sich davon und ließen ihn halb tot liegen."

Die Aktualität und Zeitlosigkeit dieses Bibelabschnitts ist atemberaubend. Ich denke, man kann heute gar nicht anders, als die einzigartige Beispielgeschichte Jesu vom barmherzigen Samariter vor dem Hintergrund der grauenhaften Fluchtkatastrophe unserer Tage zu lesen.

Unter die Räuber gefallen: Gleich nach dem Ölberg in Jerusalem beginnt die Wüste. Der Geschichtsschreiber Strabon erzählt, wie einst Kaiser Pompeius dort ruhmvoll die Räuber vertrieben hatte. Das war etwa 50 vor Christus, sodass der Erfolg offensichtlich nicht lange vorgehalten hat. Jesus Christus verwendet also womöglich eine Geschichte, die sich wirklich zugetragen haben könnte.

Die Geschichte von Ahmed U. ist eine solche Räubergeschichte heute. Die 40 oder 50 Toten, die man dieser Tage erstickt in einem LKW auf einer österreichischen Autobahn fand, waren tot liegengeblieben. Es zerreißt einem das Herz! Dort, wo das Recht nicht mehr gilt, dort, wo Menschen Gott und seine heiligen Gebote nicht mehr kennen, herrschen die Räuber.

Schaut man weiter in die Geschichte Jesu, liest man: "Es traf sich aber, dass ein Priester dieselbe Straße hinabzog; und als er ihn sah, ging er vorüber." Ich war immer davon ausgegangen, dass Jesus hier ein wenig sozialkritisch die Vertreter der etablierten Gruppen in Jerusalem anprangert. Aber das Problem geht noch viel tiefer, denn der Priester hat vordergründig das Gesetz Gottes auf seiner Seite. Im 3. Buch Mose (21,1) heißt es: "Ein Priester soll sich an keinem Toten seines Volks unrein machen." Er hatte also richtig gute und fromme Gründe, den vermeintlich Toten liegen zu lassen! Das war mir bisher so nicht deutlich. Und dennoch verliert der Priester letztlich seine Menschlichkeit.

Vor reichlich einer Woche sprach ich mit einem Arzt in Beeskow in Brandenburg. "Sie sind Pfarrer von Beruf? Ich bin zwar kein Kirchgänger, aber die Kirche ist das letzte Bollwerk! Was wir hier mit den Ausländern alles erleben ." Mich hat erschreckt, dass ein kluger, gut verdienender Mensch seine Fremdenfeindlichkeit so unverhohlen vortrug, auf meine Zustimmung hoffend. Vielleicht hat dieser Arzt ja auch wirklich gute Gründe und schlechte Erfahrungen. Aber wir verletzen das Gebot der Nächstenliebe, wenn wir den unter die Räuber von heute, die korrupten afrikanischen Potentaten oder die verrückten Islamisten (die sehr genau wissen, dass Sie Böses tun, sonst würden sie nämlich Ihre Gesichter nicht ständig verhüllen) - wenn wir den unter diese Räuber Gefallenen nicht helfen würden.

Ja, ich weiß, womöglich gibt es gute Gründe, vielleicht sogar sehr christliche Gründe, vorüberzugehen. Und niemand kann derzeit sagen, wie die Entwicklungen in Europa weitergehen. Aber wenn jemand am Wege liegt, dann möchte Jesus Christus uns deutlich machen, dass man unter keinen Umständen weitermachen kann, als wäre nichts passiert. Die Frage, was man wie Kaiser Pompeius gegen die Räuber tun kann, stellt sich erst danach.

"Ein Samariter aber, der auf der Reise war, kam dahin; und als er ihn sah, jammerte er ihn; und er ging zu ihm, goss Öl und Wein auf seine Wunden und verband sie ihm, hob ihn auf sein Tier und brachte ihn in eine Herberge und pflegte ihn." Der Mensch aus Samaria empfindet tiefes Mitleid. Dieses Wort "Er jammerte ihn", griechisch "splangchnizomai", bedeutet "Bewegt, emotional berührt sein". Man könnte übersetzen: "Es ging ihm an die Nieren!" Von Jesus wird dies immer wieder so gesagt. Wir erfahren auch: "Am nächsten Tag zog er (der Samariter) zwei Silbergroschen heraus, gab sie dem Wirt und sprach: Pflege ihn ." Das war schon recht viel Geld. Ein Denar war zu Jesu Zeiten ein Tageslohn.

Es geht heute darum, dass wir uns vom Elend der Menschen anrühren lassen, dass es uns an die Nieren geht. Lassen wir uns nicht abhalten von guten Gründen oder von Gefühlen der Fremdheit. In vielen Gemeinden der SELK wird am Sonntag für die Diakonie und deren Flüchtlingshilfe eine Kollekte gesammelt: "Flüchtlinge willkommen heißen - Flüchtlingsarbeit in der SELK". Mit den Mitteln soll unbürokratisch Hilfe geleistet werden.

Der Samariter hat mit zwei Denaren zwei Tageslöhne gegeben. Wenn man sein eigenes Netto-Monatseinkommen durch 30 teilt, dann kann man sich einen Tageslohn vorstellen. Wenn man diese Zahl mit zwei multipliziert, dann hat man den Betrag vor Augen, den der Samariter dem Wirt gegeben hat. "Da sprach Jesus zu ihm: So geh hin und tu desgleichen!"

Lassen wir diese Kollekte zusammen mit den vielen wunderbaren Willkommens-Initiativen zahlreicher SELK-Gemeinden zu einem Zeichen gegen die unchristlichen und grausamen Regungen der Fremdenfeindlichkeit in unserem Land werden, zu einem Zeichen der Liebe, die Christus uns selbst zugewendet hat.

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