Angedacht!


„Ich habe dich einen kleinen Augenblick verlassen, aber mit großer Barmherzigkeit will ich dich sammeln. Ich habe mein Angesicht im Augenblick des Zorns ein wenig vor dir verborgen, aber mit ewiger Gnade will ich mich deiner erbarmen, spricht der Herr, dein Erlöser.“

Jesaja 54,7+8

Bitte lesen Sie den ganzen Bibelabschnitt Jesaja 54,1-10!


Dr. Andrea GrünhagenLiebe Leserinnen und Leser,

diese wie ein Gedicht klingenden Worte sind nicht nur wunderschön, sie sind auch sehr alt. Der Prophet Jesaja hat sie im Auftrag Gottes an das Volk Israel im babylonischen Exil gesprochen. Etwa ab 530 /520 v.Chr. endete diese Zeit der Gefangenschaft in Babylon und die Juden durften in ihre Heimat zurückkehren. Nicht allzu lange vorher muss diese Zusage Gottes ergangen sein.

Die Wendung des Schicksals steht kurz bevor. Aber worin besteht diese Wende und worin ist sie denn begründet? Es lohnt sich, den ganzen Bibelabschnitt Jesaja 54,1-10 zu lesen, um das zu verstehen. Gott redet zu Israel, das, wie im Alten Testament immer wieder einmal, im Bild einer Frau vorgestellt wird. Einer Frau, deren Ehemann Gott ist. Das ist der Hintergrund dieser Worte. Man könnte also fast sagen, dass es sich um ein Liebesgedicht handelt. In diesem Gedicht geht es zunächst um die Frau. Die Beschreibungen entsprechen wahrscheinlich der Gefühlslage der Israeliten in Babylon. Sie erleben sich als einsam und verlassen. Mit Land und Tempel fürchten sie, auch Gott verloren zu haben. Und ein Stück weit ist das auch so, weil es ja Gottes Gericht war, das sie getroffen hatte.

Drei Bilder dienen zunächst der Beschreibung der Situation. Das ist die einsame Frau, die keinen Mann und darum auch keine Kinder hat, dann die Witwe, die ihren Mann verloren hat und die verlassene Frau, die verschmäht wurde. Allen dreien gemeinsam ist: Die Frau ist allein und erlebt Leid und Demütigung. Immer wieder begegnet uns im Alten Testament dieser Zusammenhang von Leid und Scham oder Schande. So geht es Israel in der Babylonischen Gefangenschaft.

Lange her, weit weg und doch lösen diese Bilder unmittelbar etwas aus. Wer könnte nicht Beispiele aus dem eigenen Leben oder Umfeld dazu nennen?

Doch nun kommt das Große und Wunderbare, das Jesaja ankündigen darf. Israel im Bild der einsamen, zurückgewiesenen, verlassenen Frau wird aufgefordert: Juble! Freue dich! Jauchze! Fürchte dich nicht! Schäme dich nicht mehr!

Wie das, denn noch hat sich an der Situation doch gar nichts geändert? Nun, dem Augenschein nach noch nicht, aber das Schicksal hat sich doch schon gewendet, weil sich nämlich der Zorn Gottes gewendet hat. Und damit ändert sich alles. Die Wende liegt in Gott selbst.

Gott macht den ersten Schritt. Jesaja verkündet: „Denn der Herr hat dich zu sich gerufen wie eine verlassene und von herzen betrübte Frau; und die Frau der Jugendzeit, wie könnte sie verstoßen bleiben? (V. 6) Gott bringt es nicht übers Herz, sein Volk für immer zu verstoßen.

Im Gedicht spricht nun der Mann: „Ich habe dich einen kleinen Augenblick verlassen … Ich habe mein Angesicht im Augenblick des Zorns ein wenig vor dir verborgen …“ (V. 7+8) Wie Liebende, die nach einem Streit wieder zueinander finden hört sich das an. Natürlich ist das nur ein Bild. Gott ist nicht wie ein konfliktunfähiger Ehemann, der einschnappt oder wütend schmollt. Und Israel ist keine unsichere Diva, die sofort Verlassensängste entwickelt, wenn ihr Mann (zu Recht) zornig auf sie ist. Menschliche Bilder sind nie ganz auf Gott übertragbar, der Vergleichspunkt ist hier die wunderbare Tatsache, dass jemand aufhört, wütend zu sein und sich wieder neu zuwendet.

Die ganze verzweifelte Situation wird, nachdem sie sich gewandelt hat, nur als ein kleiner Augenblick erscheinen. Die Abwendung im Zorn ist doch nicht endgültig und total. Ähnlich wird es in einem Psalm ausgedrückt: Einen Abend lang währet das Weinen, aber des Morgens ist Freude. (Psalm 30,6). Nun macht zwar die schönste Versöhnung den Streit oder seine Ursachen nicht ungeschehen, aber auch ein länger währender Konflikt erscheint im Vergleich doch klein und kurz, weil sich eine ungleich viel größere Perspektive nach vorne zeigt.

Zu einem Neuanfang gehört oft auch ein (neues) Versprechen. Immer, wenn es in der Heiligen Schrift um einen Bund zwischen Gott und Menschen geht, geht dieser Bundesschluss von Gott aus und ist kein beidseitiger Vertrag. Wie bei Gottes Bund mit Noah soll es nun auch mit Israel nach dem Exil sein: Gott schwört, nicht mehr zu zürnen und zu schelten. Er verspricht Gnade und Barmherzigkeit, und zwar so ewig und unverbrüchlich, wie seine Zusage nach der Sintflut: „Solange die Erde steht soll nicht aufhören …“ Gott nimmt seine Gnade nie wieder zurück. Eher könnten die größten Gebirgsmassive der ganzen Welt einstürzen, als dass sein Friedensbund hinfällig würde.

Was Gott der Menschheit im Noahbund und Israel immer und immer wieder von Abraham an geschworen hat, dass überbietet er im Neuen Bund durch Christus noch einmal und bis in Ewigkeit. Das sagt er nun auch jedem Einzelnen persönlich zu, der glaubt und getauft ist. Wie mit jedem Bundesschluss ist es auch bei der Taufe. Sie ist allein Gottes Initiative und allein sein Werk. Da hat er sich unverbrüchlich auf uns festgelegt. Es ist ihm deshalb längst nicht egal, wenn wir seine Gebote übertreten und er kann auch zürnen, aber er schlägt die Tür von sich aus zwischen uns nicht völlig zu. Wir können das tun und leider tun das auch viele Getaufte. Und trotzdem hat Gott nichts lieber, als wenn wir nach einem Fehltritt zu ihm zurückkommen, ja, er macht sogar den ersten Schritt auf uns zu. So ist er. Und dann können sich Schicksale wenden, dann sind Neuanfänge möglich, wenn und weil Gott es will.

Ihre Andrea Grünhagen

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