ILC: bewegende Stellungnahme eines russischen Teilnehmers | 08.04.2022

Das stärkste Gefühl: Angst
ILC: bewegende Stellungnahme eines russischen Teilnehmers


Hannover, 8.4.2022 - selk - Die Europäische Region des Internationalen Lutherischen Rates (ILC) tagte kürzlich videobasiert. Unter Leitung von Rev. Chairman Georg Samiec (Großbritannien) berieten die Teilnehmer unter anderem Hilfsmöglichkeiten für die kriegsbetroffenen Menschen in der Ukraine und auf der Flucht. Der leitende Geistliche der Selbständigen Evangelisch-Lutherischen Kirche (SELK), Bischof Hans-Jörg Voigt D.D. (Hannover), nahm für seine Kirche am Treffen der europäischen ILC-Region teil.

Gegenüber selk_news erklärte Bischof Voigt: "Besonders bewegend war auf diesem Treffen nicht nur die große Hilfsbereitschaft der ILC-Mitgliedskirchen, sondern auch ein Statement, das ein Teilnehmer aus einer ILC-Mitgliedskirche aus Russland vor den Teilnehmern sprach und das er nach dem Treffen auch schriftlich zur Verfügung stellte." Aus Sicherheitsgründen werden hier weder sein Name noch der Name seiner Kirche genannt. Der russische Teilnehmer sagte und schrieb, der Schock über das, was geschehen ist, sei so groß, "dass wir wahrscheinlich erst Jahre später in der Lage sein werden, dies zu realisieren." Er glaube, dass "wir im Moment die ersten vier Phasen der Trauer durchlaufen: Leugnen, Wut, Verhandeln und Depression. ,Das kann nicht sein! Wir können keinen Krieg begonnen haben!' ,Dieser verdammte Krieg!' ,Es muss einen Ausweg geben!' ,Es ist alles hoffnungslos ...' Die Welt, in der wir gelebt haben, ist zerbrochen, und es gibt keine Möglichkeit, sie wiederherzustellen." Man könne sich kaum vorstellen, wie vielschichtig die Krise sei, die Russland und sein Volk durchmachten. Sie sei nicht nur politisch und wirtschaftlich, sondern vor allem existenziell. Der Krieg habe die Gesellschaft gespalten.

Er habe ehrliche, denkende Menschen hilflos und mit dem Gefühl von Angst und Scham zurückgelassen. Die derzeitige Situation der Medien sei beispiellos.

Die Zensur sei ungeheuerlich. Das neue Gesetz erlaube es, Menschen für "falsche" Nachrichten über den Krieg zu 15 Jahren Gefängnis zu verurteilen.

Das schließe sogar die Bezeichnung der "militärischen Sonderoperation in der Ukraine" als Krieg ein. Die Menschen müssten VPN-Dienste nutzen, um (verschlüsselt) Verbote von sozialen Netzwerken zu umgehen. Die meisten oppositionellen Medien seien geschlossen worden und die Journalisten hätten Russland verlassen. Die wenigen, die geblieben seien, könnten nicht über den Krieg berichten. Die Menschen protestierten zwar. Aber alle Versammlungen seien verboten, und die Menschen würden sofort festgenommen und mit Geldstrafen belegt. Diejenigen, die zum dritten Mal festgenommen würden, kämen ins Gefängnis. "Einige unserer Gemeindemitglieder haben gegen den Krieg gestreikt und wurden verhaftet. Einem russisch-orthodoxen Priester droht eine Anklage wegen einer Predigt, in der er die Menschen aufforderte, für den Frieden zu beten und eine Petition zur Beendigung des Krieges zu unterschreiben." Die Petition sei von 1,2 Millionen russischen Bürgerinnen und Bürgern unterzeichnet worden und könnte sogar noch mehr Zuspruch finden, da sie aber persönliche Angaben erfordere, zögerten die Menschen, sie zu unterzeichnen, und der Organisator der Petition sei bereits festgenommen worden. "Da ich in jeder Predigt über den Frieden und die Sündhaftigkeit dieses Krieges predige - und wir diese Predigten auch live übertragen -, frage ich mich, wann ich an der Reihe sein werde. Ich würde sagen, das stärkste Gefühl, das die Menschen in Russland jetzt haben, ist Angst.

Erstens ist es die Angst, sich zu äußern. Die Menschen haben nicht nur Angst, ihre Meinung öffentlich mitzuteilen, sondern sogar die Meinung anderer zu ,liken' oder zu posten. Zweitens haben die Menschen lähmende Angst um ihre Zukunft. Angesichts der Inflationsrate und der Folgen der Sanktionen haben die Menschen Angst, dass nicht nur die Versorgung mit ausländischen Waren und Luxusgütern, sondern auch mit lebensnotwendigen Gütern eingeschränkt wird und es sogar zu Hungersnöten kommt."

Gegen beide Arten von Angst sei die Kirche geschützt. "Erstens bekennen wir unseren Glauben nun schon seit mehr als 2000 Jahren mutig. Wir haben gelernt, die Wahrheit zu predigen, egal wie unpopulär sie ist oder wie gefährlich es ist, sie zu enthüllen. ,Wer nun mich bekennt vor den Menschen, zu dem will ich mich auch bekennen vor meinem Vater im Himmel. Wer mich aber verleugnet vor den Menschen, den will ich auch verleugnen vor meinem Vater im Himmel.' (Matthäus 10, 32-33). Zweitens haben wir gelernt, Gott zu vertrauen und uns nicht zu sorgen, denn er selbst wird für uns sorgen.

,Trachtet zuerst nach dem Reich Gottes und nach seiner Gerechtigkeit, so wird euch das alles zufallen. Darum sorgt nicht für morgen, denn der morgige Tag wird für das Seine sorgen. Es ist genug, dass jeder Tag seine eigene Plage hat.' (Matthäus 6, 33-34) ,Alle eure Sorge werft auf ihn; denn er sorgt für euch.' (1. Petrus 5,7) Wir fahren also fort, das zu tun, wozu wir berufen sind - das Gesetz in seiner ganzen Strenge und das Evangelium mit seinem ganzen Trost zu predigen. Wenn wir das Gesetz verkünden, weisen wir auch auf die Sünde des Krieges hin und ermahnen alle, die für das Blutvergießen verantwortlich sind, zur Umkehr. Wenn wir das Evangelium predigen, erinnern wir die Menschen an die Liebe Gottes zu uns Sündern und an seine ständige Fürsorge."

In diesen Tagen werde viel über die Bekennende Kirche in der Zeit der Naziherrschaft in Deutschland nachgedacht. Die wichtigste Schlussfolgerung aus dieser Zeit sei, dass die Kirche das Gesetz und das Evangelium fleißig und mutig predigen sollte, bevor es zu dem Punkt komme, an dem es unmöglich sei. Das sei der einzige Weg, die Gesellschaft vor dem Faschismus zu bewahren.

Bischof Voigt sagte gegenüber selk_news: "Das mutige und unerschrockene Statement unseres Bruders aus Russland beeindruckt mich zutiefst. Auf meine Frage, ob wir seine Worte veröffentlichen dürften, hat er ohne Zögern mit ,Ja' geantwortet." In diesen Tagen, in denen die schrecklichen Bilder aus den Kiewer Vororten durch die Medien gingen, zeigten die Worte des lutherischen Pfarrers ein anderes Russland, meinte Voigt weiter: "Lasst uns nicht müde werden, für die Menschen in der Ukraine zu beten, wie auch für dieses ,andere Russland'."

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Ein Bericht von selk_news /
Redaktion: SELK-Gesamtkirche /
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