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An dieser Stelle werden auf selk.de regelmäßig Bücher vorgestellt: zum Lesen, zum Verschenken, zum Nachdenken, zum Diskutieren – Buchtipps für anregende Lektürestunden. Die hier veröffentlichte Buchvorstellung haben Gudrun und Michael Schätzel verfasst.

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Diebin des Herzens


Maria Albers, Jahrgang 1997, aus der Selbständigen Evangelisch-Lutherischen Kirche (SELK) hervorgegangen, und mittlerweile mit ihrem Mann, Pfarrer der Freien Evangelischen Synode in Südafrika, und den drei Kindern in Südafrika lebend, hat im evangelikalen Marburger Verlag Francke Buch GmbH ihren Debütroman veröffentlicht: Diebin der Herzens.

In die Atmosphäre der Stadt London im Jahr 1890 können Leserinnen und Leser rasch eintauchen und mitfühlen mit den Hauptcharakteren. Die wechselnden und dabei gut nachvollziehbaren Erzählstränge dieses gelungenen Erstlingswerks halten die Spannung bis zum Schluss.

Verwoben in eine zarte Liebesgeschichte und die nötigen Hindernisse bis zum Happyend, geht es thematisch darum, wie Menschen auf die schiefe Bahn geraten, und um die Schwierigkeiten, wieder hinauszufinden. In diesem Zusammenhang werden im Erleben der Romanfiguren verschiedene Facetten von Streben nach Rache, von Loslassen und Vergebung lebendig dargestellt.

Über viele Seiten hin erschloss sich uns zunächst nicht, weshalb dieses Werk in einem dediziert christlich-evangelikalen Verlag erschienen ist. Zugleich empfanden wir das als wohltuend: Es liegt hier kein übertrieben frommes Buch vor, sondern: Durch dieses Vorgehen der Autorin waren wir bereits mitten in der Geschichte, als erste Anklänge einer christlichen Sicht und einer einladend seelsorglichen Haltung ausdrücklich Erwähnung fanden. So ist der individuelle Glauben überwiegend organisch mit dem Erleben der Protagonistinnen und Protagonisten verbunden; spät, aber wirkungsvoll findet die Praxis der Gottesdienstbesuche ihren Niederschlag.

Wenn wir auch über zwei Kleinigkeiten leicht erheitert gestolpert sind – über eine Gebetserhörung im Turboverfahren (S. 240) und über einen in fliegender Hast atemlos gekritzelten Schrieb, der sich in späterer Zitation als ausgesprochen ausführlicher Brief erweist (Seiten 282 und 289f) –, so haben wir das spannende Buch zwischen Krimi und Liebegeschichte doch durchgehend mit Freude und Gewinn gelesen, empfehlen es gern zum Selbstlesen und Verschenken und warten gespannt auf die nächste Veröffentlichung der Autorin.


Maria Albers
Diebin des Herzens
Verlag Francke Buch GmbH, Marburg 2024, 368 Seiten, 16,00 Euro




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An dieser Stelle werden auf selk.de regelmäßig Bücher vorgestellt: zum Lesen, zum Verschenken, zum Nachdenken, zum Diskutieren – Buchtipps für anregende Lektürestunden. Die hier veröffentlichten Buchvorstellungen hat Doris Michel-Schmidt verfasst.

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Ich war doch noch ein Junge


Cover BrallierAls polnischer, jüdischer Junge wurde Mitka, vermutlich 1939, in ein ukrainisches Internat gebracht. Was mit seinen Eltern passierte, hat er nie erfahren. Er entkam der Hinrichtung durch die anrückenden Nazis, weil er beschloss, aus der Schule zu fliehen. Allein, durch den Wald und über Felder. Er erlebte Massenerschießungen – und überlebte, unter Leichen begraben. Er wurde zwischen Erwachsenen in Viehwaggons gepfercht und in Konzentrationslager deportiert. Er sah die Folterungen, die Leichenberge. Er überlebte.

Später kam Mitka in das Lager Pfaffenwald bei Rothenburg an der Fulda. Auch als Achtzigjähriger kann er nicht erzählen, was er dort gesehen hat. Von Gustav Dörr, einem Nazi, wurde er aus dem Lager geholt, als Kinderarbeiter auf seinem Hof. Mitka heißt jetzt Martin, und ihm wird als Geburtsdatum der 14.12.1932 zugewiesen – damit er das vorgeschriebene Mindestalter für Zwangsarbeiter von zehn Jahren dokumentieren konnte.

Sieben Jahre dauerte das Martyrium Mitkas auf dem Dörr’schen Hof. Er wurde gehalten wie ein Stück Vieh, ja schlimmer, er wurde geschlagen und erniedrigt - und er hatte immer Hunger. Trotzdem: In all den Jahren lief er nicht weg. „Wo hätte ich hingehen sollen?“ sagt er und dass er es ja nicht anders kannte.

Eines Tages hört Mitka, versteckt in einer Kammer des Hauses, eine Stimme zu ihm sagen: „Am Ende findest du dein Ziel“. Noch heute ist Mitka gerührt, wenn er von diesem Erlebnis erzählt, das ihm Kraft gab durchzuhalten. Er ist überzeugt, dass Gott damals zu ihm gesprochen hat und ihm dieses Versprechen gab.

Bis Mitka, der als Kind so unglaubliche Schrecken erlebt hat, seine Geschichte erzählen konnte, hat es lange gedauert. Er kam nach Amerika, seinem „gelobten“ Land, das er aus dem Kino kannte, er heiratete, er fand Arbeit, er bekam Kinder. Endlich hatte er eine Familie, nach der er sich immer so gesehnt hatte. Ein ganz normales, scheinbar perfektes Leben.

Über seine Kindheit redete er nie. Aber die Schatten seiner Vergangenheit holten ihn irgendwann ein. Nach Jahrzehnten des Schweigens konnte er seiner Frau Adrienne nach und nach erzählen, was er als Junge erlebt hatte. Und endlich, mit ihrer Hilfe, machte er sich auf, nach seinen Wurzeln zu suchen, nach seiner Familie und nach seiner Identität als Jude.

Das Autorenteam hat mit Mitka und Adrienne zusammen die Stationen seiner Kindheit sorgfältig recherchiert und erzählt sein Leben in diesem Buch emphatisch, respektvoll, fesselnd. Sehr beeindruckend!

Steven W. Braillier u.a.
Ich war doch noch ein Junge. Ein Holocaustüberlebender versöhnt sich mit seiner Vergangenheit
SCM Hänssler Verlag 2023, 382 Seiten, 25,00 Euro



Papierkinder

Cover KröhnAls Emma und Mathilde im Armenhaus in Berlin-Steglitz ein Neugeborenes vor dem sicheren Tod retten, schweißt das die beiden Mädchen zusammen. Und auch wenn ihre Freundschaft im Lauf ihres Lebens Belastungen ausgesetzt ist: Es eint sie die Überzeugung, dass Kinder beschützt werden müssen – im 19. Jahrhundert kein selbstverständlicher Gedanke. Armut, Hunger und Kälte zwingen viele Familien, die Kinder früh zum Mitverdienen einzubeziehen. Auch Mathilde kann nicht verhindern, dass ihr Sohn Ludwig durch Austragen von Brötchen und Zeitungen und andere Hilfsarbeiten zum kärglichen Einkommen beiträgt. Als er seiner kleinen Schwester Ida den schweren Wagen mit gewaschener Kleidung, die sie austragen soll, abnimmt, verunfallt er und stirbt. Die Schuldgefühle drücken Mathilde derart nieder, dass sie beinahe daran zerbricht. Ihr Mann ist dem Alkohol verfallen, und so ist Mathilde auf sich allein gestellt. Als eine begüterte Frau, die keine Kinder bekommen kann, Mathildes jüngstes Kind Marianne zu sich nehmen will, bleibt Mathilde nichts anderes übrig, als zuzustimmen. Sie kann ihre Kinder nicht mehr versorgen. Vor Scham bricht sie in dieser Zeit den Kontakt zu Emma ab.

Emmas Leidenschaft sind Gedichte, im Schreiben sieht sie ihre eigentliche Berufung, aber das wird eher mit Unverständnis gesehen. Und auch ihr politisches Engagement für die Rechte von Frauen und Kindern weckt nicht überall Zustimmung. Aber Emma hat zu viel Leid und Not gesehen – in den Armenhäusern, in den Kinderheimen, in den Fabriken und den Arbeiterfamilien. Sie kämpft dafür, dass sich das ändert. Und in diesem Kampf finden schließlich auch die Freundinnen Emma und Mathilde wieder zusammen.

Der Autorin Julia Kröhn haben für ihren Roman drei historische Frauenfiguren als Vorlage gedient: Emma Döltz, Clara Grundwald und Eglantyne Jebb. Alle drei setzten sich an der Schwelle vom 19. zum 20. Jahrhundert für die Rechte von Kindern ein. Vermutlich sind sie sich nie begegnet. Aber Julia Kröhn gelingt es großartig, das Engagement der drei Frauen mit einer anrührenden Familiengeschichte zu verweben und so den Roman zu einem packenden Zeugnis jener Zeit zu machen.

Julia Kröhn
Papierkinder
Blanvalet Verlag 2023, 558 Seiten, 24,00 Euro



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Entscheidungen an der Schwelle des Todes


2024 01 Cover WarrenAls Neurochirurg und Spezialist für bösartige Hirntumore ist Lee Warren jeden Tag mit dem Sterben konfrontiert. Seine Patienten haben kaum Aussicht auf Heilung. Lee Warren weiß meist schon bei der Diagnose: Das wird nicht gut ausgehen. Trotzdem, oder vielleicht auch gerade deshalb, betet er für und mit den Patienten.

Lee Warren ist Christ. Ohne seinen Glauben hätte er wohl kaum seinen Einsatz als Arzt im Irak-Krieg überstanden. Und ohne seinen Glauben würde er seinen höchst anspruchsvollen und kräftezehrenden Dienst an den Patienten nicht tun können. Das weiß Warren und ist gerade deswegen so angefochten, als er mehr und mehr spürt, dass er seine Gebete hinterfragt. Ist es nicht unsinnig, Gott um einen guten Verlauf, ja um Heilung zu bitten, obwohl er doch nach all seiner Erfahrung weiß, was mit den Patienten geschehen wird? Wie sollte er ihnen Zuversicht vermitteln? Wenn Gott offenbar bereits beschlossen hatte, den sterben zu lassen, der bei ihm als Arzt Hilfe suchte, was sollten dann all die Gebete?

Warren ist enttäuscht von Gott – und er ist enttäuscht von sich selbst, weil er seine Zweifel nicht mehr totschweigen kann.

Was ihm hilft, sind Gespräche: mit seinem Krankenhausseelsorger, mit seiner Frau, mit dem bekannten christlichen Autor Philip Yancey, den er um Rat fragt. Und nicht zuletzt helfen ihm immer wieder die wunderbaren und beeindruckenden Lebens- und Glaubenszeugnisse so mancher Patienten angesichts ihres bevorstehenden Todes.

Ohne all diese Hilfe hätte er vielleicht nicht annehmen können, wie Gott ihn auch über die schlimmste Zeit trägt, als sein Sohn Mitch stirbt und ihn diese Erfahrung in das tiefste Dunkel der Sinnlosigkeit stürzt. Wie er lernt, Schmerz und Leid aus einer anderen Perspektive zu sehen, Glück und Gottvertrauen nicht davon abhängig zu machen, ob die Diagnose „gutartig“ lautet und die Behandlung Erfolg verspricht. Es gebe eine Wahrheit, schreibt Warren, auf die er immer wieder gestoßen sei, ob als Arzt für Krebspatienten, als traumatisierter Kriegsveteran oder als Vater, der einen Sohn verloren hat: „Mein Glück darf nicht davon abhängen, ob mein Leben frei von Schmerz ist.“ Er erkennt das im Blick auf Jesus, der selbst vor die Wahl gestellt wird, „ob man den Schmerz zusammen mit dem Glück nimmt oder ob man das Nichts wählt. Beispielhaft für uns alle entschied er sich für Ersteres, sah dem Leiden ins Auge, das ihn erwartete, und warf seinen Glauben nicht weg.“

Lee Warren ist nicht nur ein begnadeter Arzt und Chirurg, er kann auch großartig schreiben. Wie er die Geschichten von Patienten erzählt, wie er sein Ringen mit den großen Fragen des Lebens in Worte fasst, das ist berührend, spannend, tröstlich und herausfordernd zugleich.

W. Lee Warren
Entscheidungen an der Schwelle des Todes; Ein Gehirnchirurg zwischen Glaube, Zweifel und Hoffnung
Francke Verlag 2023, 378 Seiten, 19,00 Euro




Deutsch vom Scheitel bis zur Sohle

2024 01 Cover AsserateDer Begriff „Leitkultur“ ist wieder öfter zu hören in der Politik, was vielleicht kein gutes Zeichen ist für das Verständnis der Deutschen von ihrer eigenen Kultur, Geschichte und Tradition. Was denn zu dieser Leitkultur gehöre, in die ja Migranten integriert werden sollen, ist wahrscheinlich so umstritten wie noch nie.

Asfa-Wossen Asserate, ein Spross des äthiopischen Kaiserhauses, kam 1968 zum Studium nach Deutschland. Nach dem Militärputsch in seinem Heimatland Äthiopien 1974 wurde er hier zum Staatenlosen; seit 1981 besitzt er den deutschen Pass.

Mit seinem gefeierten Bestseller „Manieren“ gab der mittlerweile 75-jährige Asserate 2003 sein Debüt als Autor. Immer wieder ist er in seinen Büchern der Seelenlage der Deutschen nachgegangen. Mittlerweile, so sagt er es selbst, sei er der Rolle des „teilnehmenden Beobachters“ entwachsen, zu sehr fühle er sich längst „dem Dschungel all dessen, was deutsch ist, mit Haut und Haaren verstrickt“. Aber, so Asserate, in den 55 Jahren, in denen er in Deutschland lebe, habe sich dieses Land so rasant verändert wie wohl niemals in der Geschichte zuvor.

Sein jüngstes Buch „Deutsch vom Scheitel bis zur Sohle“ mag in all den Krisen, die in diesem Deutschland gerade aufbrechen, fast schon etwas aus der Zeit gefallen wirken. Asserate flaniert in seinem „Vademecum“ entlang alphabetisch geordneter Stichworte durch die Allee deutscher Eigenheiten, Marotten und Klischees. Von A wie Abendbrot über D wie Dienstleistung und L wie Leitz-Ordner bis Z wie Zapfenstreich.
Das kommt leichtfüßig daher, heiter, liebevoll. Und gleichzeitig stutzt man immer wieder, weil Asserate sich den Blick des Fremden im eigenen Land bewahrt hat.

Zum Thema Kaffeetrinken zum Beispiel: In Äthiopien, dem Ursprungsland des Kaffees, ist die Zubereitung des Kaffees ein Ritual, das sich über Stunden hinziehen kann. Wie anders hierzulande: „Der europäische Geist der Effizienz hat dem Kaffee das Zeremonielle ausgetrieben und aus ihm ein Getränk gemacht, das vor allem der Disziplin auf den Sprung helfen soll.“
Auch wenn er das Wort Habseligkeiten unter die Lupe nimmt, wenn er unter dem Stichwort Leitz-Ordner die Vorzüge der Ordnung skizziert oder unter R wie Realpolitik erzählt, wie er sich 16 Jahre lang um die Freilassung seiner Mutter und seiner Geschwister bemühte, die 1974 nach dem Putsch in Äthiopien, bei dem sein Vater ermordet wurde, ins Gefängnis geworfen worden waren. Erst 1990 traf er den deutschen Außenminister Hans-Dietrich Genscher, kurz danach kam seine Familie frei.

Eine unterhaltsame Lektüre, die einen versöhnlichen Ton in den deutschen kulturellen Wirrwarr trägt.

Asfa-Wossen Asserate
Deutsch vom Scheitel bis zur Sohle. Ein Vademecum; Die andere Bibliothek
Aufbau Verlag 2023, 288 Seiten, 26,00 Euro




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Stefan Dittmer: Propst im Osten


Stefan Dittmer ist Jahrgang 1964 und wurde am 6. Mai 2023 zum Propst für die Kirchenregion Ost gewählt. Er folgt dabei Gert Kelter aus Görlitz, der in den Ruhestand ging. In der SELK sind die vier Pröpste aus den vier Kirchenregionen Teil der Kirchenleitung. Wir haben mit Stefan Dittmer ein Interview geführt und haben mit ihm über wichtige Herausforderungen der Gegenwart, tröstende Bibelstellen und mutmachende Lieder sowie seine „junge“ Kirchenregion gesprochen.

Dittmer

selk.de-Redaktion:
Lieber Stefan Dittmer, guten Tag! Sie wurden im Mai zum Propst der Kirchenregion Ost gewählt. Seitdem ist nun ein halbes Jahr vergangen – die Schonfrist ist quasi vorbei. Wie waren Ihre ersten Erfahrungen und Erlebnisse als einer von vier Pröpsten unserer Kirche?

Stefan Dittmer: Zunächst erwartete mich eine Wartezeit von der Wahl zum Propst am 6. Mai bis zur Einführung am 13. Juni, erst dann ging es so richtig los. Ich war neugierig, was mich erwartet, konnte bei der ersten Sitzung der Kirchenleitung als designierter Propst hineinschnuppern und ging erwartungsfroh mit einer gewissen Abenteuerlust in mein neues Aufgabengebiet. Meine Tätigkeit als Religionslehrer an der Grundschule musste ich leider aufgeben. Schade, aber neben der Arbeit als Gemeindepfarrer in Dresden kommen nun weitere Aufgaben hinzu, die Zeit und Kraft in Anspruch nehmen.
Dann aber auf der ersten Sitzung der Kirchenleitung holte mich als eingeführter Propst die Realität ein: Entscheidungen müssen getroffen, Probleme müssen bearbeitet und Lösungen für schwierige Sachverhalte gefunden werden. Dazu sind viele Sitzungen, auch per Zoom, nötig, hinzukommen Dienstfahrten und die Zeit der Stille Zuhause. Eine große Herausforderung, die ich mit Gottes Hilfe und mit einer betenden, mir Mut zusprechenden Kirchgemeinde vor Ort annehmen konnte.

selk.de-Redaktion:
Unsere Kirche erlebt eine diskussionsreiche Zeit in einer Gesellschaft, die unter Kontroversen, Kriegen und Katastrophen leidet. Welche Bibelstelle gibt Ihnen Halt und Trost?

Stefan Dittmer:
Mein Konfirmationsspruch aus Psalm 73 gibt die Richtung:
„Das ist meine Freude, dass ich mich zu Gott halte und setze meine Zuversicht auf Gott den HERRN, dass ich verkündige all dein Tun!“
In allen Dingen und Geschehnissen ist es ein anderer, der uns hält, zu dem wir kommen und beten dürfen, an dem wir festhalten und der das Fundament unserer Lebens Handels und Redens ist. Jeden Sonntag wieder neu erfahren wir die lebendige Gegenwart Gottes, der zu uns redet und kommt, ja leibhaft in uns einzieht mit seiner Kraft, seinem Leben und Frieden. In dieser Gewissheit geht es in den Alltag mit allen schönen und dunklen Abschnitten: Und ER ist dabei! Gott sei Dank!

selk.de-Redaktion:
Welche Herausforderungen sehen Sie für unsere Kirche oder die Kirchenregion Ost im Speziellen? Was macht Ihnen dabei Mut?

Stefan Dittmer: Drei Aufgabenbereiche sehe ich für mich als Propst in den nächsten Jahren:
Als erstes möchte ich den Gemeinden, den Pfarrer und der Gesamtkirche den Dienst der Mission ans Herz legen. Es ist ein wunderbarer, verheißungsvoller Dienst, die frohe Botschaft der Rettung des Sünders allein aus Gnade um Christi willen zu verkündigen und zu leben. Eigentlich ist dieses der Auftrag und das Gebot Gottes. Obendrein hat der HERR der Kirche uns die Verheißung gegeben, dass sein Wort niemals leer zurückkommt, sondern das tut, wozu Gott es gesandt hat: um Glauben zu wecken und Menschen zu retten.

Gerade im Osten bietet sich ein großes Potential aufgrund der sozialistischen, atheistischen Vergangenheit. 20% der Bevölkerung im Osten wie im Westen sind Christen und gehören einer Kirche oder christlichen Gruppe an: diese wissen, an wen sie glauben und besuchen die Gottesdienste und Veranstaltungen ihrer Kirchengemeinde. Weitere 20% sind Atheisten oder gehören einer anderen Religion an: hier ist eine missionarische Arbeit sehr schwierig.
Die weitaus größte Gruppe der restlichen 60 % bezeichnen sich im Westen als christlich und gehören nominell zu einer Kirchengemeinde: sie besuchen den Gottesdienst zu Weihnachten, beten vielleicht und haben ein oberflächliches christliches Bewusstsein: diese Gruppe ist schwerlich für den christlichen Glauben ansprechbar.
Dagegen sind 60% der Bevölkerung im Osten offen für die christliche Botschaft, weil sie in ihrer Kindheit kaum etwas davon gehört haben. Wie oft werde ich in der Straßenbahn oder auf Bahnreisen als Pfarrer und Seelsorger angesprochen.

selk.de-Redaktion:
Und welche weiteren herausfordernden Aufgabenbereiche sehen Sie?

Stefan Dittmer: Eine zweite Aufgabe sehe ich darin, die Kirchenregion Ost in der Kirchenleitung und Gesamtkirche zu vertreten. Der Propst wird ja jeweils in einer Kirchenregion gewählt und ist damit für diesen Bereich verantwortlich. So will ich die Belange, die Anliegen und die Besonderheiten des Ostens in die Gesamtkirche einzubringen. Andererseits soll der Propst für die gesamtkirchlichen Aspekte in den Gemeinden und bei den Pfarrern im Osten werben. Dieser doppelten Rolle, hinein in die Kirchenleitung und Gesamtkirche und hinein in die Gemeinden und zu den Pfarrer der Kirchenregion Ost, stelle ich mich als Propst.

Die dritte Aufgabe liegt für mich in den Aufbau von seelsorglichen Kontakten zu den Pfarrern und zu den Gemeinden in der Kirchenregion Ost, um an den guten, schönen sowie an den stressigen, unglücklichen Lebensumständen Anteil zu nehmen. Da der Superintendent jeweils die Dienstaufsicht innehat, kann der Propst zunächst eine andere Rolle wahrnehmen, nämlich die der Begleitung. So beabsichtige ich, Gespräche zu den Pfarrer, deren Familien und zu den Gemeinden in der Kirchenregion Ost in Absprache mit den Superintendenten zu suchen, um den Betroffenen die nötige Wertschätzung zuteilwerden zu lassen und frühzeitig Krisensituationen zu erkennen, zu begleiten sowie bei der Lösung mitzuhelfen.

selk.de-Redaktion:
In diesen Tagen erreicht das heißersehnte, neue Jugendliederbuch „CoSi 4“ Gemeinden und Gemeindeglieder und erfreut sich jetzt schon großer Beliebtheit. Neben dem ELKG2 ist dieses Werk eine große Bereicherung in unserer musikalischen Kirche und ein zweiter „Neuzugang“ innerhalb kurzer Zeit. Welches Lied erfüllt Ihr Herz und lässt Sie im Glauben wachsen?

Stefan Dittmer: Auf dem Nummernschild unseres Autos ist die Nummer eines Liedes zu lesen – ELKG 288 (1. Auflage): „In dir ist Freude, in allem Leide!“ Ganz bewusst haben meine Frau und ich uns dieses Nummernschild ausgesucht. Neben dem Fisch auf der Heckklappe soll auch diese Nummer (wenn auch nur für Insider) von dem Grund unseres Lebens zeugen.

selk.de-Redaktion:
Als Propst sind Sie Teil der Kirchenleitung und in komplexe Abwägungs- und Entscheidungsprozesse involviert. Wer hilft Ihnen bei Entscheidungen und unterstützt Sie? Wie können Sie privat abschalten und zu neuen Kräften kommen?

Stefan Dittmer: Ganz oben steht der sonntägliche Gottesdienst, den ich in Dresden mit der mir anvertrauten Dreieinigkeitsgemeinde feiern darf. Zu wissen und zu erfahren, dass mir als Mensch vergeben wird und der HERR mich stärkt und zurüstet für die Aufgaben in Kirche und Gemeinde, öffnet den Blick in eine getroste Zukunft.
Daneben hat Gott der HERR mir eine Frau und Familie gegeben, die mich in allen Bereichen unterstützt und bisweilen trägt, wenn ich über meine Sorgen und vertrauliche Gedanken wieder einmal nicht erzählen kann und darf.
So nehmen meine Frau und ich immer wieder eine Auszeit in einem guten Restaurant, um bei guten Essen und Trinken in der Zweisamkeit zu reden und belastende Dinge anzusprechen. So manche Tür wurde so sich in schwierigen Sachverhalten geöffnet.

selk.de-Redaktion:
Wussten Sie, dass Sie Propst der jüngsten Kirchenregion der SELK sind? Entgegen jedem Vorurteil sind in der Kirchenregion Ost knapp 15% der Kirchenglieder unter 18 Jahre alt – so viele wie in keiner anderen Region unserer Kirche. Was macht Ihnen an engagierten jungen Gemeindegliedern besonders viel Freude? Welche Projekte mit jungen Menschen liegen Ihnen besonders am Herzen?

Stefan Dittmer: Nicht nur die Gemeindeglieder unter 18 Jahren, sondern ebenso die sich daran anschließende Altersgruppe – die jungen Erwachsenen und Familien – haben eine wichtige tragende Rolle in der Kirche und in den Gemeinden.
Kinderüsten, Konfirmandenfreizeiten und Jugendtreffen, die biblisch fundiert arbeiten, nehmen das Anliegen auf, die heranwachsende Generation im christlichen Glauben zu unterweisen und zu gründen. Das gilt vor allem für die Christenlehre, sprich: den Kinderunterricht, der noch in vielen Gemeinden in der Kirchenregion Ost ab der 3. Klasse gehalten wird.
Für die Veranstaltungen, die von jungen Erwachsenen initiiert wurde und organisiert werden, will ich werben und diese tatkräftig unterstützen, soweit es meine Zeit erlaubt. Zu nennen sind hier die BJT-Plus (Bezirksjugendtage für junge Erwachsene) und die Lutherische Tagung „Gemeinsam Glauben“, die im September diesen Jahres in Erfurt stattgefunden haben. Es ist wunderbar, wenn junge Menschen nach Vertiefung im christlichen Glauben fragen und um Unterweisung im lutherischen Bekenntnis bitten. Dem gilt es Rechnung zu tragen.
Dieses christliche Engagement von jungen Erwachsenen und Familien erlebe ich sehr wohltuend in der eigenen Gemeinde und in der Kirchenregion Ost.

selk.de-Redaktion:
Sie sind nach Ihrer Ordination 1990 – direkt nach der Wiedervereinigung – ins Pfarrvikariat nach Greifswald gegangen und sind seit August 2015 Pfarrer in Dresden. Was schätzen Sie als gebürtiger „Wessi“ am Osten und den Menschen in Ostdeutschland besonders?

Stefan Dittmer:
Obwohl ich im Westen geboren und aufgewachsen bin, liegen die ersten Schritte meines Berufslebens im Dienst der Kirche im Osten:
• Die Kirchenleitung hatte mich 1989 zum Vikariat nach Berlin-Wilmersdorf entsandt. In dieser Zeit konnte ich als Vikar viele Vertretungsdienst in der damaligen DDR absolvieren. Mit dem sogenannten „Dauerlutscher“, dem Visum für West-Berliner, war es für mich leicht, nur für einen Tag in den Ostern zu reisen und dort Dienste zu tun.
• Die ersten eigenverantwortlichen Schritte leistete ich als Pfarrvikar in Greifswald und stand im Dienst der Altlutherischen Kirche. So durfte ich 1991 für den Zusammenschluss der Altlutherischen Kirche mit der SELK stimmen.
• Schließlich lebe und arbeite ich seit 2015 in Dresden.
In der Zeit als Pfarrer in Dresden ist mir wieder einmal bewusst geworden, dass im Osten stetig Früchte des Glaubens in den Gemeinden sichtbar werden und dort von einen missionarischen Aufbruch, wenn auch bisweilen in einem kleinen Ausmaß, zusprechen ist:
• Die Gemeinden wachsen nach innen und außen.
• Die Umlagebeiträge und Einnahmen steigen stetig.
• Gemeindeglieder besuchen zu einem hohen Prozentsatz die Gottesdienst
• Stets dürfen wir Gäste im Gottesdienst begrüßen, die als Gemeindeglieder bleiben.
Diesen Weg gilt es weiterzugehen.

Lieber Stefan Dittmer, wir möchten Ihnen herzlich für das Interview danken und wünschen Ihnen Gottes Segen bei Ihrer Tätigkeit als Propst für die SELK. Bleiben Sie stets behütet!

Das Interview führte Daniel Soluk für die selk.de-Redaktion

Theologisches Kompetenzzentrum der SELK


Die Lutherische Theologische Hochschule Oberursel (LThH) ist die theologische Ausbildungsstätte der Selbständigen Evangelisch-Lutherischen Kirche (SELK). Sie vertritt die lutherische Theologie in Forschung und Lehre. Dazu bilden die fünf Professoren in den Fächern Altes und Neues Testament, Kirchengeschichte, Dogmatik und Praktischer Theologie vor allem junge Menschen zu künftigen Pfarrern und Pastoralreferentinnen der SELK aus. Weniger bekannt ist, dass die Dozenten in zahlreichen anderen Bereichen innerhalb und außerhalb der SELK tätig sind. Für selk.de gibt der Rektor der LThH, Prof. Dr. Achim Behrens, einen Einblick.

Oberursel

Lutherische Theologie für die Gemeinde

Die Professoren predigen regelmäßig in Gemeinden der SELK (jeder im Durschnitt einmal im Monat). Nicht selten werden sie auch zu Amtshandlungen wie Taufen, Trauungen und Beerdigungen gebeten. Oft sind sie zu Vorträgen in Gemeinden im gesamten Bundesgebiet unterwegs. Sie leiten auch Freizeiten oder sind maßgeblich als Dozenten im Theologischen Fernkurs der SELK (TFS) beteiligt. Der TFS ist zugleich ein Institut an der LThH. Immer wieder veranstaltet die Fakultät der LThH in Kooperation mit der Volkshochschule Ringvorlesungen für die Öffentlichkeit außerhalb der Hochschule – inzwischen auch als Videokonferenz bundesweit. Die Schriftenreihe Oberurseler Hefte richtet sich gezielt an Gemeinden, zuletzt mit dem Heft „50 Jahre – 50 Köpfe“.


Lutherische Theologie für die Kirche

Alle Professoren sind Mitglied eines Bezirkspfarrkonventes und einer Bezirkssynode der SELK. Das „Pastoralkolleg“ als Einrichtung der Pfarrerfortbildung ist eng mit der LThH verbunden und die Professoren halten dort auch Kurse, ebenso wie im Praktisch-Theologischen Seminar zur Vikarsausbildung. Professoren sind Mitglieder in der Theologischen Kommission der SELK. Ebenso sind die Dozenten regelmäßig an Arbeitsgruppen der Kirchenleitung, des Allgemeinen Pfarrkonvents oder der Kirchensynode beteiligt. Derzeit führt die Fakultät im Auftrag der Kirchensynode ein Forschungsprojekt zur Rolle von Frauen in der SELK und den Vorgängerkirchen durch. Professoren der SELK waren an der Vorbereitung und Durchführung lutherischer Kirchentage maßgeblich beteiligt und stärken insgesamt durch ihre Kompetenz das theologische Profil der SELK.


Lutherische Theologie in der Ökumene

Dies gilt erst recht, wo die Oberurseler Professoren die SELK in zwischenkirchlichen oder ökumenischen Kommissionen vertreten. Dies geschieht im Deutschen ökumenischen Studienausschuss der Arbeitsgemeinschaft Christlicher Kirchen (DöSta), im Ökumenischen Studienausschuss (ÖSta) der Vereinigten Evangelisch-Lutherischen Kirchen Deutschlands (VELKD), im Theologischen und im Catholica Ausschuss der VELKD, im Theologischen Konvent Augsburger Bekenntnisses oder im Lutherischen Einigungswerk. Die Fakultät der LThH war und ist maßgeblich an zwischenkirchlichen Gesprächen mit evangelischen Landeskirchen und der römisch-katholischen Kirche beteiligt. Professoren der LThH pflegen auch die Kontakte zu lutherischen Schwesterkirchen im Internationalen Lutherischen Rat (ILC). Die LThH ist Mitglied in der ILC Seminaries Conference, dem Zusammenschluss der bekenntnisgebundenen lutherischen Hochschulen weltweit. In all diesen Aufgaben bringen die Professoren ihre Kompetenz als Stimme ihrer Kirche, der SELK, und damit als Stimme einer bekenntnisgebundenen lutherischen Theologie ein.


Lutherische Theologie in der Wissenschaft

Wenn die LThH die lutherische Theologie in Forschung und Lehre vertreten soll, dann müssen die Professoren natürlich auch forschen. Dies wird in der Regel in Veröffentlichungen greifbar. Die Promotionen und Habilitationen der Dozenten sind als Bücher veröffentlicht. Die Fakultät gibt viermal im Jahr die Fachzeitschrift „Lutherische Theologie und Kirche“ heraus. Darüber hinaus sind die Professoren an der Herausgabe von drei Buchreihen beteiligt und veröffentlichen regelmäßig Aufsätze in anderen wissenschaftlichen theologischen Publikationen (Zeitschriften oder Aufsatzbänden). Die Dozenten sind Mitglieder in verschiedenen wissenschaftlich-theologischen Vereinigungen, wie der Wissenschaftlichen Gesellschaft für Theologie, der Internationalen Löhe-Gesellschaft, der Hans Iwand Stiftung e.V., dem Verein für Freikirchenforschung, der Arbeitsgemeinschaft für Homiletik e.V. und vielen anderen. Der Rektor vertritt die Hochschule im Evangelisch-Theologischen Fakultätentag und der deutschen Hochschulrektorenkonferenz. Überall dort bringen die Mitglieder der Fakultät den Standpunkt einer bekenntnisgebundenen lutherischen Theologie ins Gespräch.


Theologisches Kompetenzzentrum der SELK

Diese und zahlreiche Aufgaben (auch in Gestaltung und Erhaltung des Hochschulcampus) nehmen die Professoren der LThH für ihre Kirche wahr. So ist die LThH das theologische Kompetenzzentrum der SELK! Dabei ermutigen wir jungen Menschen, sich bei entsprechender Begabung selbst auf den Weg einer theologischen Promotion zu begeben. Jährlich findet auf dem Campus ein Forschungskolloquium statt als Forum für den Austausch auch und vor allem mit dem wissenschaftlichen Nachwuchs. Immer wieder erhalten wir die Rückmeldung, dass Studierende „aus Oberursel“ an den Universitäten durch Problembewusstsein und theologische Gesprächsfähigkeit hervorstechen. Wenn Sie es genauer oder mehr wissen wollen, schauen Sie gern in unseren jährlichen Forschungs- und Tätigkeitsbericht, verfolgen Sie unsere sozialen Medien, laden Sie uns mal ein oder besuchen Sie uns! Vielleicht zum Sommerfest 2024 in Oberursel?

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