Mit Gott reden

 
„Wann ist ein Christ ein Christ?“ In der Januar-Ausgabe von „Lutherische Kirche“, dem Kirchenblatt der Selbständigen Evangelisch-Lutherischen Kirche (SELK) macht sich unter anderem die Journalistin Juliane Moghimi dazu ihre Gedanken – und überlegt, wie sie selbst ihren Glauben lebt.

Mit Gott reden

Dieser Text beginnt mit einem Geständnis: Ich bin nicht besonders gut im Beten, jedenfalls nicht, wenn es um die Regelmäßigkeit geht. Als Spätgetaufte bin ich völlig ohne christliche Rituale aufgewachsen, und so oft ich mir auch vornehme, künftig vor jedem Essen, an jedem Abend zu beten: Ich vergesse es doch immer wieder. Überhaupt bete ich außerhalb der Kirche eher selten – aber wenn, dann aus vollster Überzeugung und in dem festen Glauben, dass ich damit etwas bewege.

So wie neulich, als ich bei einem kurzen beruflichen Abstecher nach Wien in der Touristen-Straßenbahn saß, die einmal komplett um den Ring fährt. Auf der etwa halbstündigen Tour bekommt man über Kopfhörer ein bisschen Mozartmusik und in einer von fünf Sprachen die wichtigsten Fakten zu den Sehenswürdigkeiten eingespielt, an denen die Bahn vorbeifährt. Mittendrin, irgendwo zwischen all den Prachtbauten, Denkmälern und Parkanlagen, wurden wir Zeugen eines gerade gewesenen Verkehrsunfalls. Ein Mann mittleren Alters war wohl auf dem Nachbargleis vor eine Straßenbahn gelaufen und lag nun dort, wenige Meter von uns entfernt, verletzt, aber zumindest ansprechbar. Er hatte sichtbare Wunden am Kopf und an einer seiner Hände. Es waren schon Sanitäter vor Ort, um ihn zu versorgen. In meinen Ohren tönte Mozarts Kleine Nachtmusik, unsere Touri-Bahn fuhr nach wenigen Augenblicken weiter … und ich faltete die Hände zum Gebet. Ich redete zu Gott, was mir gerade einfiel: Er möge dem Mann in seinen Schmerzen beistehen, ihn nach Seinem Willen wieder gesund werden lassen, bei seinen Angehörigen sein, wenn sie von dem Unfall erfahren, und auch bei dem armen Straßenbahnfahrer, der mit diesem Erlebnis klarkommen muss. Über dem Gebet verpasste ich die Ausführungen zur Hofburg, aber danach ging es mir besser. Das Bild des Verletzten hatte ich immer noch vor Augen, aber ich wusste, dass er nicht allein ist und dass sich derjenige um ihn kümmern wird, der das ohnehin am allerbesten kann.

Solche spontanen Stoßgebete schicke ich nicht nur in der Not nach oben. Manchmal halte ich einfach kurz inne und sage danke. Das ist mir wichtig – nicht, weil ich Gott für eitel oder leicht kränkbar halte und denke, dass Er sauer wird, wenn ich mich nicht bedanke. Schließlich ist der Schöpfer keine alte Tante, die die mitgebrachte Schokolade nur mit einem strengen „Wie sagt man?!“ loslässt. Das Danken ist mir wichtig, weil es mir selbst wieder klarmacht, wie viel Segen auch über meinem kleinen Leben liegt.


Was würde Jesus tun?

Bei jungen evangelikalen Christen, vor allem in Nordamerika, sieht man mitunter Armbänder mit den Buchstaben W.W.J.D. Das steht für „What would Jesus do?“, also: Was würde Jesus tun? Die Frage geht auf den Roman „In seinen Fußstapfen“ von Charles M. Sheldon aus dem Jahre 1896 zurück. Dort richten die Mitglieder einer Kirchgemeinde ein Jahr lang ihr Handeln komplett danach aus. Seit den 1990er Jahren signalisieren junge Evangelikale mit diesem Armband, dass sie der fiktiven Gemeinde nacheifern und sich bei allem fragen, wie unser Herr Jesus Christus sich verhalten würde. Ein bisschen Bauchschmerzen macht mir das schon, denn auch der Messias war in Seinem Handeln mitunter widersprüchlich und provozierend – etwa bei Seinem Wutanfall im Tempel oder wenn Er Hilfesuchende zunächst brüsk zurechtwies. Genau wissen zu wollen, wie Jesus handeln würde, möchte ich mir deshalb nicht anmaßen – aber im Grunde finde ich diese Bewegung doch gut, denn sie ist ja nichts anderes, als das eigene Tun mit den Zehn Geboten und damit mit dem Verhaltenscodex Gottes abzugleichen. Nun ist mir selbst das Evangelikale ziemlich fern, deshalb würde ich ein solches Armband nicht tragen. Aber der Gedanke, meine Absichten einmal gegenzuchecken, wie man heute so modern sagt, ist gut. Es hat in meinem Leben schon so manche Situation gegeben, in der ich mich aktiv mit der Frage auseinandersetzen musste, wie mein Handeln vor Gott bestehen würde. Da waren nicht nur große, wichtige Entscheidungen, sondern auch viele kleine Momente und Gelegenheiten. Wie gehe ich mit dem aufdringlichen Bettler um? Was antworte ich der unfreundlichen Servicekraft? Soll ich einer Organspende zustimmen? Mich für einen Auftrag bewerben, auch wenn ich das Thema überhaupt nicht mag und mir dadurch weniger Zeit für angenehme Dinge (und Texte) bleibt? Wo sind die Grenzen der modernen Medizin? Wie ist das mit der Sterbehilfe für todkranke Menschen – aber auch mit der Euthanasie von Tieren? Nicht immer ist die Lage eindeutig, aber überraschend oft hilft mir dieses Hinterfragen doch ein ganzes Stück weiter.


Nicht, was ich will

An anderen Stellen wiederum erspart mir der Glaube die ewige Fragerei nach dem Sinn. Wenn Dinge anders laufen, als ich sie mir gewünscht habe, dann denke ich an das Gebet Jesu in Gethsemane: „Abba, Vater, alles ist dir möglich; nimm diesen Kelch von mir; doch nicht, was ich will, sondern was du willst!“ (Mk 14,36). Ich liebe diese Stelle der Bibel. Sie hat eine für mich extrem wichtige Botschaft: Was ich will, ist das eine. Was Gott für mich will, ist etwas anderes. Und auch, wenn es sich im Augenblick schmerzlich anfühlt, darf ich gewiss sein, dass es etwas Gutes ist. Diese Gewissheit hatte ich schon früh in meinem Leben. Das Umfeld, in dem ich aufgewachsen bin, war ganz und gar kein religiöses. Und trotzdem hat mich etwas – jemand! – gerufen. Das Gefühl, dass alles einen höheren Sinn und vor allem Sinnstifter haben muss, kannte ich schon als Kind. Als ich etwa 11 Jahre alt war, habe ich mir bei einer Kinderchorfreizeit das Vaterunser beibringen lassen. Ich wollte endlich wissen, wie man „richtig“ mit Gott redet. Aufschreiben wollte ich den Text nicht, aus Angst, dass man den Zettel findet oder ich ihn verliere. Also habe ich bei einem Spaziergang im Park hinter der Jugendherberge das Gebet Zeile um Zeile wiederholt, bis ich es auswendig konnte. In jenem Kinderchor habe ich auch die ersten (und lange Zeit die einzigen) Begegnungen mit biblischen Texten gehabt, und man kann wohl ohne Übertreibung sagen, dass die Einstudierung der Matthäuspassion mein Leben nachhaltig verändert hat. Damals war ich zwölf, und es sollte noch fast zwei Jahrzehnte dauern, bis ich einsah: Ich brauche es, in einer Kirche und einer Gemeinde zu sein. Denn der Glaube allein trägt zwar auch, aber es fühlt sich auf Dauer irgendwie unvollständig an – wie in der Musik, wo erst das Zusammenspiel vieler Instrumente oder Stimmen etwas wirklich Großes schafft.


Der Christ – der Versager?

Sechs Jahre nach meiner Taufe schließlich bin ich per Konfirmation in die SELK übergetreten – wohlüberlegt, vor allem wegen des durch die Leuenberger Konkordie so veränderten Abendmahlsverständnisses (und -bekenntnisses!) der lutherischen Landeskirchen. Bei meiner Ankunft in der Leipziger Gemeinde traf ich auf eine Gruppe Iraner, unter ihnen mein jetziger Ehemann. Sie waren die ersten Konvertiten, die wir in der SELK hatten, lange vor der Flüchtlingswelle von 2015. Ich, die ich ebenfalls nicht in dieser Kirche groß geworden war, fühlte mich diesen Neulingen nahe. Aber ich sah mich auch vielen kritischen Fragen ausgesetzt, die bei mir landeten, weil ich nun mal näher dran war an den „Zugereisten“. Diese jungen Menschen waren einem Regime entronnen, in dem man – auch wenn man vielleicht gar nicht glaubte – vorgeben musste, ein Hundertprozentiger zu sein. Ansonsten drohten Peitschenhiebe und Schlimmeres. Nun trafen sie auf uns, die wir ganz ohne Zwang behaupteten zu glauben und trotzdem im biblischen Sinne so viel falsch machten. Wir Christen benehmen uns mitunter wie die Axt im Walde und treten die Gebote mit Füßen. Selbst unsere Geistlichen sind keine Gottgleichen, sondern gehen genau wie der Basis-Christ zur Beichte und zum Abendmahl. Also ist es uns nicht ernst mit dem Glauben? Suchen wir uns gar – auch diese Frage kam – aus der Bibel nur die Rosinen heraus, die in unser modernes Leben passen?

Meine Antworten lauten heute wie vor fünf Jahren: Doch. Es ist mir ernst mit dem Glauben. Und ja, ich mache Fehler. Andauernd. Manchmal, weil ich es nicht bemerke, manchmal aber auch, weil ich nicht anders kann. Ich vergesse das Tischgebet und gebe patzige Antworten, obwohl ich weiß, dass Freundlichkeit ein kleines Wunder vollbringen würde. Glaube und Wissenschaft schließen sich für mich ebenso wenig aus wie Glaube und modernes Leben. Irgendwann werde ich vor meinem Schöpfer stehen und mich verantworten müssen. Die Liste meiner Verfehlungen wird lang sein, in vielem werde ich mich geirrt haben. Aber Er wird mir doch gnädig sein. Das glaube ich jedenfalls!


Juliane Moghimi ist Gemeindeglied der Bethlehems-Gemeinde der SELK in Hannover.

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